HELDENREISETAGEBUCH


(K)eine Heldenreise – Teil 1
Auf und nieder, immer wieder…
 
Soñe que Sevilla es de chocolate… “Ich träumte, Sevilla sei aus Schokolade”, so beginnt ein traditioneller Flamenco Gesang. Sevilla, Schokolade und Flamenco lassen mein Herz höher schlagen. Normalerweise.
 
2013. Sevilla-Reise. Andalusischer Frühling, Flamenco und zu allen Mahlzeiten meine Leibspeise: Gazpacho. Definitiv das Paradies. Mich volltanken und satt trinken – das würde ich normalerweise. Natürlich. Was sonst?
 
Normalerweise heißt: um Normal-Null herum. In Balance. Gesund. In Fachsprache: Euthym (medizinische Bezeichnung für inneres Gleichgewicht). Diesen Zustand geniessen die meisten Menschen trotz aller Alltagsneurosen die meiste Zeit über. Die Glücklichen.
 
Ich oft nicht. Wohl kenne ich den Zustand innerer Ausgeglichenheit und schätze ihn sehr. Durch einen angeborenen Defekt in meiner Hirnchemie erlebe ich jedoch immer wieder, dass meine Waage kippt und ich falle. Nicht immer aus heiterem Himmel, oft gibt es einen äußeren Auslöser. So war ich kurz vor der Traumreise nach 15 Jahren Festanstellung als Grafikerin quasi vom Junior-Chef aus der Agentur gemobbt worden.
 
In Sevilla steige ich jeden Morgen hinauf die Dachterrasse der Unterkunft. Starre gefühlte Ewigkeiten in die Tiefe, sehne mich danach, hinunter springen zu können. Wünsche mir mitten im Paradies mein Leben möge enden.
 
Ich springe nicht, sondern breche die Reise ab und begebe mich stattdessen an einen ziemlich hässlichen Ort mit schlechtem Essen und anderen kranken Menschen: die Psychiatrie. Mal wieder. Mit Hilfe von Medikamenten und Zeit sortieren sich Hirnchemie und Psyche wieder.
 
Warum verdränge ich immer wieder, dass der chronische Charakter meiner Krankheit keinerlei Hoffnung lässt, die wiedergewonnene Stabilität wäre sicher und von Dauer? Ich sollte es besser wissen, schließlich bestimmen, trotz täglicher Lithium-Prophylaxe-Pillen, manische wie depressive Phasen schon Jahrzehnte lang mein Leben.
 
Zwei schwierige Jahre später, nach unzähligen vergeblichen Bewerbungen um eine neue Anstellung, einer unerquicklichen Weiterbildung für Arbeitslose und weiteren Aufs und Abs setze ich für meine berufliche Zukunft alles auf eine – gefühlt – letzte Karte: Selbstständigkeit. Und eine Coaching-Ausbildung. „Menschenlehrer“ wähle ich sowohl um mir selbst helfen zu können als auch zukünftig anderen Menschen.

Die nächsten eineinhalb Jahre produziere ich reichlich Kosten. Unterricht, Reisen, Hotel, Bücher… Die Stimmung unter uns 150 „Azubis“ ist berauschend herzlich und Lehrer Veit versteht es gekonnt, zu motivieren und Hoffnungen zu säen. “Gehobene Freizeitbeschäftigung”, frotzelt mein Mann. Doch auch dieses Vergnügen bewahrt mich nicht vor meinen Phasen. Von hypomanischem Größenwahn beflügelt, sehe ich mich als Muse, gefragte Grafikerin, Autorin, und Bühnenkünstlerin, die alles vereint: Tanz, Gesang, Rede und Coaching. Natürlich zum Wohle aller und wirtschaftlich höchst erfolgreich. Wie das konkret funktionieren soll? Weiß ich nicht. Scheitere am Schreiben des Business Plans, der erforderlichen Buchhaltung und anderen Formalismen. Leider auch an der erfolgreichen Gewinnung von zahlenden Kunden. 

Stattdessen mache ich un- und unterbezahlte aber aufreibende Jobs, meist als Grafikerin. Mache so viel. Nur nicht Geld verdienen. Meine Idee, auf eine mehr als nur ehrenamtliche Weise im Imperium meines Lehrers mitarbeiten zu können – ebenfalls Fehlanzeige.
 
Ein Jahr später: Außer Spesen nichts gewesen? Ich bemerke, dass meine Vision völlig abstrakt geblieben ist. Wie, wann, womit und wie viel Geld verdient werden kann – nicht zu erkennen. Auch die Verantwortung gegenüber meinen zukünftigen Coaching-Klienten wird mir langsam bewusst. Erschrocken verliere ich den Mut.
 
Platzende Seifenblasen sind ein 1A-Auslöser für eine weitere Krankheitsphase. Die „Major Depression“ schlägt in voller Härte zu. Knockout. Wieder mit suizidalen Zwangsgedanken. 98% von mir sind lebensmüde. Mit Hilfe der übrigen 2% rette ich mir selbst das Leben, indem ich in einem Kraftakt eine Krisenintervention in der ungeliebten Klinik verfüge.

Trotz meiner jahrelangen Erfahrung und leider auch trotz aller jüngst gelernten und geübten Werkzeuge zur Vorbeugung wie auch für den Ernstfall konnte ich den Punkt, um mein Abrutschen aufzuhalten oder gar zu vermeiden, nicht finden.

Peng, eine weitere Blase platzt. Ich hätte nun ausreichend an der Hand, um mir selbst helfen zu können, den Stein der Weisen gefunden, Selbstwirksamkeit und Macht statt Ohnmacht, das Geschenk in meiner Krise und könne als Alchimistin gar Scheiße in Gold verwandeln?! Denkste!

Wenn ich mir also doch nicht selbst helfen kann, wie soll mir das dann bei anderen gelingen? Bye bye, berufliche Perspektive! Obendrein befürchte ich, dass mich Inspiration und Mut nahezu ausschließlich in Gesellschaft von manischen oder hypomanischen Stimmungskurven besuchen kommen. Falls das stimmt, ist mir der Preis zu hoch und so wird es insgesamt schwierig mit der Kunst.
 
Und jetzt? Soll ich mich damit abfinden, ein unberechenbarer, ohnmächtiger Psycho zu sein? Vielleicht liegt im ständigen Fragen schon der Fehler. Wer bin ich? Was will ich? Stopp! Dieses Visionen und Ziele aufstellen um ihnen dann hinterher zu jagen, dieses Optimieren- und irgendwohin wollen impliziert doch erst, mir würde etwas fehlen. Mein Bedarf an Bewusstseinsschulung, Persönlichkeitsentwicklung, Selbstoptimierung, Transformierung und "Good Life Coaching" ist jedenfalls erst einmal erschöpft.
 
Egal, wie ich damit umgehe, wie ich versuche, es für mich zu interpretieren, egal, was ich lerne und auch egal, wie sehr ich die Schnauze voll habe – es bleibt mir nichts übrig als einzusehen: Meine Kacke habe ich an der Backe, da hilft nichts. Auch kein Lebensratgeber aus dem florierenden Psycho- und Spiri-Business. Drauf geschissen!


Uff, das war knapp – fast wäre ich auch einer von ihnen geworden, den Helfern, Heilern und Seelengurus. Vielleicht sollte ich meiner jüngsten Krise dankbar sein?

Gerne halte ich es mit Karl Valentin: „Ich freue mich wenn es regnet. Weil, wenn ich mich nicht freue, regnet es auch.“

Wenn ich dir nur einen Rat mit auf deinen Weg geben dürfte: Nimm an, was ist. Wenn möglich, mit Humor.

 

Nathalie Karg im Juni 2016

 


Reisetagebuch, Teil 2: Doch eine Heldin?
Die Reise ist noch nicht zu Ende…

„Wenn Du die Sonne wieder sehen kannst, dann schreibe ein zweites Kapitel“ – so bat mich Veit. Hier ist es:

Nackt stehe ich auf der Dachterrasse und male. Nein, manisch bin ich nicht, mich kann hier oben niemand sehen. Die Sonne scheint, es ist warm, Ende August. Mit der Vorzeichnung zu meinem Gemälde hatte ich Mitte Mai begonnen, kurz vor meinem Geburtstag. Weiter kam ich damals nicht, meine Krankheit funkte dazwischen. Wieder einmal. Wie auch bei Lebensthemen wie berufliche Karriere und Mutterschaft…

Um nicht, getrieben von suizidalen Zwangsgedanken, von eben dieser Dachterrasse zu springen, begab ich mich zwei Tage nach meinem Geburtstag in stationäre Behandlung.


Jetzt, ein Vierteljahr später, kann ich das Gemälde endlich fertig stellen. Oder zumindest daran weiter arbeiten, denn ich werde von einem Anruf meines Göttergatten unterbrochen. Er lädt mich ein in unser Lieblingslokal, das mit dem vielleicht schönsten Sonnenuntergangs-Panorama im Rhein-Main-Gebiet. Ich ziehe mich also an. Mein rotes Kleid musste lange warten, um erstmals getragen zu werden. Ich hatte es im Frühjahr gekauft, unsere legendären Menschenlehrer-Partys im Sinn, und direkt in die Änderungsschneiderei gebracht. Von dort jedoch Monate lang nicht abgeholt – nicht etwa aus Vergesslichkeit (eine der typischen Nebenwirkungen von Langzeit-Lithium-Einnahme), sondern weil ich in depressivem Zustand nichts mehr anzufangen wusste mit einem Lady-in-Red-Auftritt…

Welche äußeren Auslöser neben meiner endogenen, d.h. inneren, genetisch bedingten Disposition mich jüngst wieder ins Loch stürzten, habe ich bereits analysiert. Doch wie fand ich hinaus, wie geht es mir heute? Warum kann ich wieder Rot tragen?

Zwei Wochen in der stationären plus sechs Wochen in der ambulanten Klinik und ein alpiner Kurzurlaub mit Mann und Hund liegen inzwischen hinter mir. Für meinen Lebensunterhalt habe ich zuletzt zweierlei unternommen: mit Unterstützung meiner Ärzte prophylaktisch Frührente beantragt, die Sache läuft, Ausgang offen. Und einen Minijob in einem kleinen Hotel um die Ecke begonnen. Unter anderem springe ich dort zwischen Frühstücks-, Rezeptions und Hausdamen-Dienst – das macht den Job recht kurzweilig und gibt mir das gute Gefühl eine Art „Geheimwaffe“ zu sein. Durch den Dienst an Menschen findet zuweilen sogar in der Menschenlehrer-Ausbildung Gelerntes seinen Einsatz.

Endlich wieder in Lohn und Brot stehen – mit einfacher, ehrlicher Arbeit – auch das hat mich zurück ins Leben geholt. Gesehen, gebraucht und anerkannt werden – eine unschlagbare Kombination!

Dennoch bleiben meine idealistisch-naive Hoffnung auf dauerhaften Frieden einer Normal-Null-Psyche sowie mein (Selbst-)Vertrauen in meine (All-)Macht über die Krankheit nachhaltig zerschmettert. Aber ich ahne: genau diese Ernüchterung und meine neue realistische Einstellung könnten „das Geschenk“ der jüngsten grausigen Episode sein. Erdung statt Flausen. Endlich wird mir bewusst, dass das Andauern der ersehnten euthymen Ausgeglichenheit weder jemals sicher ist, noch in meiner Macht liegt. Nur mein Umgang damit.

Wenn ich heute in meinem ersten Ausbildungsordner nachlese, was ich mir vor zwei Jahren für Ende 2016 gewünscht habe, runzelt sich meine Stirn. Ja hallo, ihr süßen kleinen Flausen... Das meiste habe ich jedenfalls nicht erreicht. Aber will ich es überhaupt noch? Oder ist diese nüchterne Klarheit, wie sie mir neuerdings auch von vielen Mitmenschen bestätigt wird, nicht viel gesünder?

So weiß ich beispielsweise heute: Selbstoptimierungs-Sucht kann anstatt mehr Lebensglück auch leicht eine erhöhte Unzufriedenheit zur Folge haben. Also locker machen…

Gerade hat mir eine junge Studentin gemailt und angefragt, ob sie mich für ihre Bachelor-Arbeit interviewen kann. Mein Stirnrunzeln glättet sich – genau das wollte ich doch: Gefragt und gehört werden. Schreiben, gestalten. Menschen erreichen, ermutigen, inspirieren, erheitern. Was kann ich ihr – und dir – sagen?

Es ist etwas, dass ich das felsenfest glaube, auch im Bezug auf das Leben und meinen manchmal krankhaft herbeigesehnten Tod. Neben der Liebe zu meinen Nächsten, ist es für mich stets das stärkste Argument gegen den Suizid, denn demnach kann er gar nichts beenden, also keine Lösung sein. Ha!

Was ist es? Ganz einfach…
Wenn ich dir nur einen Rat mit auf deinen Weg geben dürfte, wisse: So oder so – ES. GEHT. IMMER. IMMER. WEITER.

Nathalie Karg im August 2016


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Kommentare: 3
  • #1

    Claudia (Freitag, 26 August 2016 21:16)

    Liebe Nathalie,

    Danke für Deine beiden Kapitel. Du schreibst sooo lebendig und humorvoll. Das ist schön und anregend zu lesen. Danke auch an die 2%, die um dein Weiterleben könne gekämpft haben. Danke Dir, dass Du da geblieben bist.
    Ich verstehe sehr gut, dass Du immer wieder "vergißt", dass da diese "Krankheit" ist. Dass es diese Seite in Dir gibt.

    Vielleicht ist das der Weg von Heilung? In der Situation jetzt dir auszudenken, wie du diese Seite im Gefühl behalten kannst, diese Zerbrechlichkeit der Stabilität?

    Vielleicht können wir mal sprechen. Wenn wir uns wiedersehen. Bitte gib deine beruflichen Pläne nicht auf. "Ich bin noch nicht so weit" hat Veit mal gesagt - das hat mich sehr ermutigt. Alles Liebe und Gute Gedanken schickt dir
    Claudia

  • #2

    Gudrun (Freitag, 26 August 2016 22:16)

    Liebe Nathalie,

    danke für Deine Worte. Ich verstehe jetzt mehr von dir. Freu mich dich wiederzusehen, wann auch immer das möglich ist. Dicke Umarmung, Gudrun

  • #3

    Bee (Sonntag, 23 Oktober 2016 12:51)

    Liebe Nathalie,
    ich finde Deine Seite, Deine Beiträge, Deine Geschichte sehr berührend!

    Meine Mutter war manisch-depressiv ab meiner Geburt oder auch dem Tod ihrer Mutter und war mein Leben lang unter geheimnisvoller Medikamentation - natürlich war das Thema in der Familie in den 60ern, 70ern tabu.
    Ich glaube, ich habe die Bipolare Sensibilität auch (geerbt?), allerdings treten die wunderlich superkreativen Phasen erst mit höherem Alter auf und ich will dann immer jede Sekunde davon nutzen... und gottseidank sind die Wochen danach eher nur inaktiv durchhängend und leicht getrübt.

    Was ich interessant fand hier, die Komorbidität! Ich selbst bin adipös trotz Kenntnis des Risikos (Bewegungsmangel), rauche lange nicht mehr und trinke keinen Alkohol mehr. Mein Bruder allerdings war psychotisch mit zahlreichen Klinikaufenthalten bis zur gesetzlichen Betreuung, die er aber stolz seit vier Jahren wieder los ist. Geblieben sind Nikotinsucht, Kaufsucht und Alkoholsucht, austherapiert. Ich erkenne erst jetzt, dass vermutlich auch seinem Leben die BiPo zu Grunde liegt. Ich sehe, wie mein Bruder jetzt mit Ende 50 vor die Hunde geht... was kann ich tun? Er will nicht mehr in Entzug und Klinik.

    Ja, es scheint ein Familienthema zu sein. Und vielleicht muss ich mich erst mal um mich kümmern.

    Du erwähnst eine US Autorin, wie genau ist der Name?

    Und wir kommt es zur Störung? Gibt es Vorzeichen? Gibt es auch die light Version wie bei mir?

    Danke für Dein Dasein und Dein Sosein,
    Bee aus Köln.